Zwischen den Fronten

Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit befindet sich Afghanistan seit 35 Jahren im Dauerkrieg. Die offizielle Regierung kämpft gegen die Taliban um die Vormachtstellung im Land. Der in Reinach lebende Tom Hoedjes war im Rahmen eines NATO-Mandats sechs Monate im Einsatz für die holländische Armee.

nato2Tom Hoedjes ist ein stämmiger Mann. Wenn er sagt, er gehöre der holländischen Armee an, lassen sein Bart und der dunkle Teint auf einen harten Kämpfer schliessen, der sich, mit dem Maschinengewehr im Anschlag, in einen Schützengraben legt. Doch weit gefehlt. Der in Reinach lebende Hoedjes war in seiner aktiven Militärzeit Sanitäter und arbeitete auch in der Schweiz, unter anderem im Spital Menziken als Rettungssanitäter und Anästhesieassistent. Dennoch fand er sich während sechs Monaten zwischen den Fronten verfeindeter Parteien in Afghanistan wieder. Hoedjes ist seit 20 Jahren Reservist der niederländischen Armee und macht Missionen wie diese in Afghanistan freiwillig mit. Der Konflikt ist einer der ältesten aktiven Kriege überhaupt und dauert schon 35 Jahre an. Ein Ende ist nicht absehbar.

25_ow_nato1Wo Krieg andernorts ein Ausnahmezustand ist, hat er sich in diesem Land zur Normalität gewandelt.Neben der anerkannten Regierung erheben die Taliban ebenso Anspruch auf die Macht. Sowohl Regierung, wie auch Rebellen führen jeweils eigene Amtsstellen und Sozialsysteme, schaffen Arbeitsplätze und bezahlen ihren Anhängern Renten. «Die Taliban werden in Afghanistan nicht als Terroristen wahrgenommen, wie uns das in Europa zu verstehen gegeben wird», erklärt Stabsoffizier Hoedjes mit nachdenklichem Blick, «sie bilden vielmehr eine Schattenregierung mit einer mächtigen Wirtschaftsleistung, die für die 34 Millionen Afghanen ebenso lebenswichtig ist wie die Strukturen der offiziellen Regierung.» Einer der wichtigsten Wirtschaftszweige im Land ist der Handel mit Opium, Heroin und Cannabis. Diese Substanzen finden auch in der Pharmaindustrie Anwendung.

Bild: Tägliches Brot während der NATO-Mission in Afghanistan: Bei taktischen Planungen von Operationen nehmen Delegierte der NATO und Stabsoffiziere der «Afghan National Army» teil. Mittendrin: Tom Hoedjes (2.v.r.). (Bilder: zVg.)

«In dem halben Jahr während meines Einsatzes wurden 10’000 Menschen verletzt oder getötet.»

Der Holländer weiss genau, dass sich an der unbefriedigenden Situation, bei der täglich Kriegsopfer zu beklagen sind, in den nächsten Jahrzehnten nichts ändern wird. «Alleine während meines halben Jahrs in Afghanistan sind in diesem Krieg 10’000 Menschen verletzt worden oder gestorben, fernab von der öffentlichen Wahrnehmung.» Korruption und ein System, das den Mächtigen Vorteile bringt, lässt das Land in einem lethargischen Stillstand verharren.

Einsatz dient der ganzen Welt

25_ow_nato3Was also kann man als «Weltöffentlichkeit » machen? Das Land «retten»? Dabei helfen, dass der Ist-Zustand wenigstens nicht schlechter wird? Das Land seinem Schicksal überlassen? 2015 hat die NATO den «Resolute Support» als Nachfolgeprojekt des ISAF-Einsatzes (siehe Infobox) ins Leben gerufen, mit dem Ziel, afghanische Sicherheitskräfte auszubilden. «Training Advise Assist» wird das im NATO-Jargon genannt.Wenn Hoedjes ergänzt, man mische sich nicht in den Krieg ein, so stimmt das allerdings nicht ganz: «Durch die Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte nimmt man Partei für die offizielle Regierung und wird selber zum Feind der Taliban, obwohl wir ja eigentlich helfen wollen.» Hoedjes holt weiter aus: «Ich sehe unsere und meineAufgabe eher darin, das Leben für die Zivilbevölkerung sicherer zu machen.Wir können an der Situation im Land momentan nichts ändern, aber wir können Afghanistan für die Bevölkerung lebenswert gestalten. Durch dieses Training helfen wir den afghanischen Sicherheitskräften, ihr Land in den Griff zu bekommen.» Irgendwann, so sei die Hoffnung, werden die Afghanen in der Zukunft ohne die Hilfe der NATO auskommen. Der Weg dorthin dürfte aber noch ein sehr langer sein. Gelinge es, so Hoedjes weiter, diene das auch Europa und dem Rest derWelt: «Es ist im Interesse der NATO, den Konflikt im Land zu behalten. Eskaliert die Situation, führt das zu weiterer Armut, noch mehr Opfern, Flüchtlingsströmen, Attentaten.Das will niemand.»

Bild: Zur Ausbildung der Sicherheitskräfte gehört auch der Verkehrsdienst: Dabei kommen Utensilien zum Einsatz, die in anderen Ländern als Spielzeug für Kinder gedacht sind.(Bilder: zVg.)

«Noch mehr Opfer, Flüchtlingsströme, Attentate.
Das will niemand.»

Schönes Afghanistan

nato5Der Alltag Hoedjes’ im abgeriegelten NATO-Camp sei nicht besonders spannend gewesen, erzählt der 58-Jährige. Dieses liegt beim Flughafen Masar-e Scharif und heisst «Camp Marmal», benannt nach dem Gebirgszug der Marmal Mountains – eine beeindruckende Bergwelt mit Dünen, die in hügelige Grünflächen und schliesslich in hohes Gebirge übergehen. «Von diesen schönen Landstrichen habe ich wenig zu sehen bekommen. Wenn ich nur an den Hindukusch- Gebirgszug denke, die riesigen Mohn- Felder, Nuristan oder den Chaiber-Pass. Unglaublich schön auch die Blaue Moschee (Bild) in Masar-e Scharif.» Nach Sitzungen und Telefonkonferenzen im Camp, fand seine Arbeit aber mehrheitlich am Verhandlungstisch mit lokalen Behörden statt. «Um dorthin zu gelangen, wurden wir unter Waffenschutz in gepanzerten Fahr- oder Flugzeugen transportiert», erinnert sich der Reinacher an seine Ausseneinsätze. In «seinem» Camp – die NATO führt landesweit vier solcher Einrichtungen – leben heute rund 1600 Soldaten aus 20 Ländern. «Früher waren hier 5000 Soldaten stationiert, jetzt wirkt das riesige Camp sehr leer. Die Freizeit war knapp bemessen, gelegentlich traf man sich zum Bier, oder an ‹Nationentagen› kam es zum kulturellen Austausch untereinander », erklärt Hoedjes. Afghanen seien nicht dabei gewesen und ein Austausch sei höchstens bei den Treffen während Ausseneinsätzen möglich. Vor dem Krieg gab es touristische Aktivitäten im Land, die inzwischen vollständig zum Erliegen gekommen sind. Tauchen dennoch «Rucksacktouristen » auf, laufen diese Gefahr, verschleppt zu werden. Die Lösegelderpressung ist übrigens auch ein Wirtschaftszweig im Land. Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt, deren Bevölkerung mehrheitlich in der Landwirtschaft tätig ist.

Bild: Mächtig und unglaublich schön: Das Ali-Mausoleum in Masar-e Scharif aus dem 15. Jahrhundert, auch Blaue Moschee genannt, gilt als Begräbnisstätte Ali ibn Abi Talibs, des Schwiegersohns Mohammeds.(Bilder: zVg.)

«Der Frieden ist eine Illusion.
Wir können nur diesen Beitrag leisten, damit es nicht schlimmer wird.
»

Rückblickend hofft Hoedjes mit seinem Einsatz Menschen geholfen zu haben. Der Frieden sei aber eine Illusion, genau so wie dieWahrnehmung des Konflikts in derWeltöffentlichkeit. «Er ist einfach da und wir können nur diesen Beitrag leisten, damit es nicht noch schlimmer wird.» Helfen würde der Reinacher jederzeit wieder.«Vielleicht kann ich noch einmal einen solchen Einsatz wahrnehmen.Mali böte sich an – ein ganz anderer Konflikt, aber im Grunde die selben Probleme für die Menschen, die dort leben.» Er sei ja auch nicht mehr der Jüngste, aber er würde gerne wieder helfen.

Nato-Einsatz – Resolute Support

nato4Von 2001 bis 2014 führte die NATO (North Atlantic Treaty Organization, zu Deutsch: «Organisation des Nordatlantikvertrags» in der Islamischen Republik Afghanistan eine Wiederaufbaumission durch. Und zwar unter dem Namen «International Security Assistance Force» (ISAF), zu Deutsch «Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe » – per Definition ein «friedenserzwingender Einsatz unter Verantwortung der beteiligten Staaten». 2015 wurde die Mission durch den «Resolute Support» (RS) ersetzt und ist heute noch aktuell. Diese Mission dient der Ausbildung und Beratung sowie der Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte (englisch: Train, Advise and Assist, TAA). Die NATO hat ganz Afghanistan als Operationsgebiet festgelegt und setzt einen personellen Gesamtumfang von rund 12’000 Soldaten ein. Neben den meisten NATO-Mitgliedstaaten beteiligen sich weitere Nationen als sogenannte operationelle Partner. Für den Einsatz ist das «NATO Allied Joint Force Command Brunssum» in den Niederlanden zuständig, dem der in Reinach wohnhafte Tom Hoedjes als Reservist angeschlossen ist. Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und belegt im «Human Development Index» (HDI) den 171. Platz unter 187 Staaten (Stand 11/2016).

Bild: Aus einem MI-17 Hubschrauber fotografiert: Luftaufnahme von Masar-e Scharif im Norden Afghanistans, während dem Flug zum Beratungsgespräch in einer afghanischen Kaserne.(Bilder: zVg.)